16.03.2023
Expertenbeitrag mit Prof. Dr. Alain Thierstein und Wolfgang Roeck

„Wir brauchen mehr Mut in der Umsetzung neuer Konzepte“

Unter dem Credo „unternehmen statt unterlassen“ fordert Prof. Dr. Alain Thierstein in der Stadtplanung mehr Experimentierfreude und neue Koalitionen. Wolfgang Roeck ist Immobilienunternehmer und setzt seit Jahrzehnten mit Mut und Leidenschaft besondere Projekte um. Beide sind überzeugt: Wenn wir die Zukunft aktiv angehen und neu denken, profitieren alle.    

Die Transformation hat die Immobilienwirtschaft mit voller Wucht erfasst. Schon seit einiger Zeit haben steigende Boden- und Baupreise sowie wachsende Anforderungen an den Klimaschutz die Branche vor große Herausforderungen gestellt. Mit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg kamen weitere Krisen, eine erhebliche Inflation und damit deutlich gestiegene  Zinsen hinzu. In dieser Gemengelage werden einige Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren. Der Wohnungsbau kommt immer mehr zum Erliegen, die SoBoN-Vorgaben funktionieren so nicht mehr. Und die an die Immobilienunternehmen gestellten Anforderungen können von diesen nicht mehr erfüllt werden. Fest steht: Auch wenn die Experten nicht genau wissen, was die Zukunft bringt – vieles wird sich ändern.  

„In stürmischen Zeiten brauchen wir mutige und weitblickende Projektentwickler“, sagt Alain Thierstein. „Ein ‚Weiter so‘ darf es nicht geben, und das ist auch gut so.“

Der Professor für Raumentwicklung an der TU München ist in diesen Zeiten international als Experte heiß begehrt. Denn als promovierter Ökonom interpretiert er Marktmechanismen plausibel und zahlenbasiert. 

Aus der Perspektive des Immobilienunternehmers kann Wolfgang Roeck, Geschäftsführer von WÖHR + BAUER, die enormen Umbrüche bestätigen. Im Umfeld steigender Kosten brauche es ein Umdenken. „Wir müssen die Stadt vom Menschen her denken. Dann ist das Ergebnis zugleich auch nachhaltig“, betont er. „Doch Wandel braucht Austausch und Flexibilität. Darum ist meine Prämisse eine Kultur des Miteinanders.“

Thierstein befasst sich seit Langem mit Trends der Stadt- und Raumentwicklung. Die Studie „Wohnen, Arbeiten und Mobilität – Veränderungsdynamik und Zukunftsoptionen für die Metropolregion München“, die Thierstein 2016 gemeinsam mit Prof. Gebhard Wulfhorst veröffentlichte, gab wichtige Impulse für die Regionalentwicklung. An der Umfrage haben mehr als 7.000 Menschen teilgenommen, die ihren Wohnort und ihren Arbeitsplatz zuvor gewechselt hatten.

Die wichtigsten Entscheidungsfaktoren für die Standortwahl waren schon damals die Nahversorgung und die Anbindung an den ÖPNV, noch vor der Wohnungsgröße. Der Mix von Faktoren hängt dabei auch von Lebensphasen und der Berufssituation ab. Wohnungsgröße und Nähe zum Arbeitsplatz waren aber bisher oft ein Widerspruch. Dies könnte sich durch Corona und den Trend zum Homeoffice ändern. Auch die Ansprüche der Menschen an ihren Arbeitsplatz haben sich geändert, konstatiert Roeck. Büros müssen heute gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein, eine hohe Aufenthaltsqualität im Umfeld bieten sowie ein gutes Ambiente und einen Komfort wie in den eigenen vier Wänden haben. „Das Büro soll Identität stiften“, so Wolfgang Roeck.

„In Zeiten des sogenannten War for Talents sind Unternehmen darauf angewiesen, dass ihre Mitarbeiter gerne ins Büro kommen. Der Trend zum Homeoffice hat diese Entwicklung weiter verstärkt.“ - Wolfgang Roeck 

Dies konnte auch Thierstein in seiner Forschung belegen: Unter dem Eindruck des Lockdowns hat Thierstein an seinem Lehrstuhl für Raumentwicklung in einer viel beachteten Arbeit  The Corona pandemic and working from home. Where could residents in the Munich Metropolitan Region move to?“ die mittel- bis langfristigen Folgen skizziert, die sich durch die „intensivere Nutzung von Telearbeit für die Wohnstandortwahl in der Metropolregion München“ ergeben. Die Ergebnisse zeigten, dass die Menschen offenbar sehr gerne bereit sind, mehr Fläche in der eigenen Wohnung gegen räumliche Nähe zum Arbeitsplatz oder Stadtzentrum einzutauschen. Vorausgesetzt, die Bedingungen stimmen: Erreichbarkeit, Wohnkosten und Breitbandversorgung.

Der bekennende Urbanist Thierstein sieht darin Herausforderung und Chance zugleich: Die Disruption der Nutzungen der Innenstädte eröffnet Möglichkeiten, der Idee der fußläufigen, vernetzten Stadt wieder Leben einzuhauchen. „Die kompakte Stadt mit ihrer Dichte und Vielfalt sowie lebendigen Quartieren ist ein Erfolgsmodell“, betont Thierstein.

„Das liegt vor allem an der Mischung von Nutzungen, die hier lange gelebt wurden. Mit Zerklüftung der Gemeinwesen in Gewerbegebiete und Schlafstädte entwickelten sich die Städte lange Zeit problematisch. Die Erfolgsgeschichte des Autos vergrößerte die Kluft weiter. Mit der Abkehr von der autogerechten Stadt sollten wir wieder Vielfalt und lebendige Dichte wagen“. - Prof. Dr. Alain Thierstein

Allerdings müssen aus Sicht von Roeck lebendige und attraktive Quartiere auch vernünftig von außen, also auch aus der Region, in einem geeigneten Modell-Split erreichbar sein. „Konvivialität bedeutet das ergänzende Zusammenkommen von unterschiedlichen Teilnehmenden im Straßenraum, das Innen und Außen der Gebäude wird eine neu erlebbare Kontinuität“, betont der Stadtentwickler. „Es sind die zufälligen Begegnungen im Stadtraum, die uns oft den entscheidenden Impuls geben. Das gilt im Job genauso wie im Privatleben“, so Thierstein. 

Wir brauchen neue Konzepte: Zukunftsfähige Quartiere sollten besonderen Wert auf eine hohe Interaktionsdichte legen. Dies gelingt zum Beispiel durch eine geschickte Kombination unterschiedlicher Nutzungen von Wohnen über Arbeiten, Freizeit und Einkaufen bis hin zu kulturellen Angeboten, verbunden mit vielfältigen Freiräumen. „Dafür gibt es keine Blaupause. Darum brauchen wir Projektentwickler, die ausgetretene Pfade der Planung verlassen“, so Thierstein. Im Idealfall lassen sich Räume auch für verschiedene Zwecke nutzen, je nach Tageszeit: Die Multicodierung von Räumen ist derzeit noch ein Buzzword. „Wir brauchen Projektentwickler, die hier Experimente wagen“, so Thierstein.

Gemeinschaftlich gestalten 

Um auf die Herausforderungen angemessen reagieren zu können, wünschen sich Thierstein und Roeck in der Stadtentwicklung neue Koalitionen. Der Austausch zwischen Politik, Verwaltung, Grundstückseigentümer:innen und Planer:innen sollte Wissenschaftler:innen genauso einbinden wie erfahrene Projektentwickler:innen. „Der offene, ernsthafte Austausch ist wichtig. Wir müssen alle an einen Tisch bringen, um Neues zu wagen: unternehmen statt unterlassen“, so Thierstein. Dies sei insbesondere für die Entwicklung des öffentlichen Raumes wichtig. Dafür tritt auch Roeck ein:

„Uns ist es wichtig, die Menschen und das Umfeld mitzunehmen und gemeinschaftlich Lebensräume zu gestalten.“ 

Wolfgang Roeck hat vielfältige Erfahrungen mit kooperativen Verfahren. Jüngstes Beispiel: Am prominenten Eingang zum Münchner Werksviertel konzipierte sein Team gemeinsam mit der Eigentümerfamilie Maltz, ehemals Optimol-Ölwerke, eine Gewerbeimmobilie der nächsten Generation. Mit seiner von mehreren Eigentümer:innen gemeinsam entwickelten Gesamtkonzeption ist das Quartier ein Modellprojekt für zukunftsfähige Stadtentwicklung.